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Stasi-Forscher
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Rüdiger Wenzke, Vom Straflager zum NVA-Knast. Ch. Links Verlag 2024

Seit April 2024 bewirbt das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) ein neues Buch zum DDR-Militärstrafvollzug.

https://zms.bundeswehr.de/de/publikatio ... er-5753738

Der inzwischen berentete ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter und zuletzt als leitender Wissenschaftlicher Direktor im ZMSBw tätige Rüdiger Wenzke präsentiert damit einen Dokumentenband zur Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs. Das Inhaltsverzeichnis des Buches ist mit direkter Downloadoption (PDF mit 52 KB) hier zu finden.

https://zms.bundeswehr.de/resource/blob ... t-data.pdf

Wenzke hat in den letzten Jahren mehrfach zum Thema publiziert; verweist aber auch auf ergänzende Arbeiten von Falk Bersch / Hans-Hermann Dirksen (zu Berndshof) bzw. Torsten Dressler und Arno Polzin (zu Schwedt).

Nach knapp 30 Seiten Vorbemerkung und Einleitung werden im Hauptteil 75 chronologisch sortierte Dokumente aus unterschiedlichen Archiven (z. T. nur auszugsweise) vorgestellt. Zu Recht verweist der Autor in der Einleitung darauf, dass die NVA als vermeintliche VOLKS-Armee eben „keine Armee des Volkes, sondern die Armee einer Partei“ war (S. 6), in der z. B. 1982 weit über 90 Prozent der Offiziere der SED angehörten oder einzutreten beabsichtigten (S. 8). Zudem attestiert Wenzke der NVA „auch eine nach innen gerichtete systemstabilisierende und systemerhaltende Aufgabe. Dazu gehörte der Auftrag an die Grenztruppen, mit Waffengewalt die Flucht von DDR-Bürgern in den freien Westen zu verhindern“ (S. 9).

Bei den von Wenzke ausgewählten Dokumenten handelt es sich sowohl um grundsätzliche Festlegungen / Vereinbarungen auf ministerieller Ebene (u. a. mit Honecker-Abzeichnung - S. 144), als auch um Vor-Ort-bezogene Regelungen (z. B. zur Arbeit und Ausbildung der Insassen), statistisches Material, sowie um einige wenige individuelle Dokumente zu einzelnen Betroffenen des Militärstrafvollzugs. Präsentiert werden v. a. Dokumente aus dem Bundesarchiv (inkl. den Abteilungen Militärarchiv Freiburg und Stasiunterlagenarchiv) und dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA). In mindestens einem Fall wird auf den exklusiven „Besitz des Herausgebers“ verwiesen (S. 191). Auf gelegentliche vorherige Veröffentlichungen einzelner Dokumente anderswo wird vom Autor hingewiesen.

Der zeitlich relevante Rahmen erstreckt sich von 1951 – 1990 und betrifft als Vollzugsorte das Haftarbeitslager Berndshof (mit ca. 20 Dokumenten bis 1968) und den Militärstrafvollzug bzw. die Disziplinareinheit in Schwedt (mit rund 50 Materialien bis 1990). Dabei werden die Entwicklung der Disziplinarstrafen bzw. des Militärstrafrechts vorgestellt und durch einzelne Schilderungen der Verhältnisse in Berndshof und Schwedt ergänzt. Dokumente zu einzelnen Betroffenen lassen erkennen, wie das Regime von harter körperlicher Arbeit und politischer Indoktrination unter anhaltend militärischen Verhältnissen wirkte.

Bisherige Erkenntnisse bestätigend und ergänzend sind die Passagen zur Vernichtung von der in ihrer Auswirkung freiheitsentziehenden Kommandeurs-Befehle (außer der Urschrift) bzw. zu einem weiteren Einzelfall mit tatsächlich drei-maliger Bestrafung in Schwedt (S. 191 bzw. 207) und Dokumente mit statistischen Angaben. Letztere benennen v. a. Zahlen zu den Zu- und Abgängen von Insassen und die Zuordnung zur Strafhöhe bzw. den zugrunde liegenden Strafrechtsparagraphen. Die Belegungszahlen und deren Veränderungen betreffen zum Teil bisher nicht bekannte Stichtags-Daten und können dazu dienen, die wegen fehlender Gesamtstatistiken bisher nur möglichen Hochrechnungen zu konkretisieren (zuletzt vorgenommen bei Polzin: Mythos Schwedt). Interessant und vermutlich ergänzend sind auch die (partiellen) Daten zu Bewährungsentlassungen, Rückfallquoten (inkl. dadurch resultierender mehrfacher SCHWEDT-Relevanz) und strafverlängernden Entscheidungen des Schwedter Kommandeurs bei Disziplinarbestraften.

Auffällig und eher irritierend sind bei den Dokumenten deren Titel bzw. Überschriften:
Das vorangestellte Verzeichnis der ausgewählten Dokumente nennt (ab S. 36) jeweils einen von Wenzke selbst formulierten Titel in Verbindung mit einer redaktionellen Überschrift mit weiteren Betreff- und Erstellungsdaten; ggfs. mit Hinweis auf nur auszugsweise Darstellung – aber ohne Signatur der Fundstelle. Mit gleichem Wortlaut werden im Dokumententeil (ab S. 47) dann der Titel und die redaktionelle Überschrift wiederholt; ergänzt um die Signatur und schließlich den Wortlaut des Dokumentes. Angaben zu Verfassern und Adressaten (somit ggfs. auch Anrede und Grußformeln) wurden in die Überschrift verlagert – was gewöhnungsbedürftig ist. Ursprünglich vorhandene eigene Titel / Betreffe der Dokumente sind nicht erkennbar.
Besonders der von Wenzke gewählte Titel „Bausoldaten im Militärstrafvollzug“ für Dokument 68 ist irreführend (S. 211). Das eigentlich präsentierte Protokoll einer Kontrolle in der Disziplinareinheit enthält v. a. statistische Angaben und nur in einem von 4 Punkten ist ein Bausoldaten-bezogenes Problem berührt. Im gleichen Dokument ist die Abkürzung RWD enthalten, die im Abkürzungsverzeichnis (S. 235) mit „Rückwärtige Dienste“ aufgelöst wird. Dies macht hier aber keinen Sinn, da es sich um eine Auflistung von unterschiedlichen Dienstverhältnissen handelt, die auch BU/Berufsunteroffiziere, UaZ + SaZ/Unteroffiziere + Soldaten auf Zeit und GWD/Grundwehrdienst(leistende) nennt. Insofern wäre naheliegender, RWD mit Reservedienst(leistende) aufzulösen. Für die Rückwärtigen Dienste nennt das Abkürzungsverzeichnis zudem die Kurzform RD.

Leider gibt es weitere Passagen, die irritieren und zu einer ärgerlichen Wahrnehmung führen.
  • Zutreffend weist Wenzke zwar auf die Unvollständigkeit von Personalakten (zu den Bediensteten des Militärstrafvollzugs) einerseits und Erziehungs- und Vollzugsakten (zu den Insassen) andererseits hin. Die damit verknüpfte Fußnote mit einem LINK zum Bundesarchiv (S. 3) weckt Hoffnung auf diesbezügliche Erläuterungen – der LINK führt aber lediglich auf eine Übersicht zu allen Gefangenenakten der DDR, in der zu Schwedt nur Unterlagen aus der Zeit VOR der Umwidmung zum Standort für Militärstrafgefangene aufgeführt werden.
  • Auf die EK-Bewegung bezogen meint Wenzke, sie sei Ausdruck eines „wenig ausgeprägten Wehrmotivs“ und bringt dies in Verbindung mit der Intention, „die Wehrdienstzeit möglichst unbeschadet zu überstehen“ (S. 10). Doch was das durchaus berechtigte Ansinnen eines möglichst unbeschadeten Überstehens der Wehrdienstzeit mit der bewussten Schikane von gleichgestellten, aber dienstjüngeren Soldaten zu tun hat, bleibt Geheimnis des Autors.
  • Zahlenvergleiche kommen ohne Relationen daher: Die absolut gestiegene Zahl von Disziplinverstößen in der NVA von 1964 bis 1980 (S. 14) wird z. B. nicht ins Verhältnis zur ebenfalls gewachsenen Truppenstärke gesetzt. Und der genannten Zahl von „mehr als 2300 MfS-Mitarbeiter[n] […] hauptamtlich allein in der NVA und den Grenztruppen“ (S. 18) fehlt ein zeitlicher und quantitativer Bezugspunkt/-Rahmen.
  • Im Unterkapitel „Formen von Verfolgung, Disziplinierung und Bestrafung in der NVA“ (S. 19) wird außer Acht gelassen, dass die Relevanz von Bestrafungen bei Wehrpflichtigen und Berufssoldaten sehr unterschiedlich ausfällt. Mit Parteiausschluss, fristloser Entlassung oder Degradierung fühlten sich Berufs-„Soldaten“ deutlich anders bestraft als Wehrpflichtige im Grundwehrdienst. Der Katalog von „Aberkennung staatlicher Auszeichnungen, Einzug des Ehrendolchs, […] Nichtgewährung von Übergangsgeldern“ betraf wohl kaum einen der Insassen von Berndshof und Schwedt, aber sehr wohl die ideologisch auf die DDR eingeschworenen NVA-Hierarchien und -Führungsebenen, die an der Gestaltung der nach Berndshof oder Schwedt führenden „Atmosphäre“ beteiligt waren.
  • Den „meisten ehemaligen Militärstrafgefangenen“ schreibt Wenzke „für den Rest ihrer Dienstzeit“ eine vorbildliche Pflichterfüllung zu (S. 18). Dies dürfte eher der Wahrnehmung der „besondere Vorkommnisse“ fürchtenden Vorgesetzten entsprechen. Tatsächlich ging es den ehemaligen Insassen, die weiterhin noch unter dem Regime von Befehl und Gehorsam standen und deren Strafzeit nicht auf die Wehrdienstzeit angerechnet wurde, primär um die Vermeidung neuer Konflikte mit den übergeordneten Hierarchien und einer ggfs. erneuten Verlängerung des Wehrdienstes. Dies umso mehr, wenn sich die Bestraften auch noch unter Bewährungsauflagen befanden. Somit dürfte Einschüchterung und Angst vor erneuter Bestrafung zugrunde gelegen haben. Zudem berichten etliche der Betroffenen von einer gerade durch die Strafzeit hervorgerufenen bzw. verstärkten Ablehnung der NVA und des DDR-Staates – was kaum mit einer vorbildlichen Pflichterfüllung zu beschreiben wäre.


Zusätzlich gibt es eine Reihe von Ungenauigkeiten:
• Die zu unterscheidenden Gruppen von Insassen: Strafarrestanten/SA, Militärstrafgefangene/MSG und (ab 1982) Disziplinarbestrafte/DB werden mehrmals zusammengefasst. Die verallgemeinernde Benennung MSG wird dem nicht immer gerecht (S. 17 f.). Die angeratene Unterscheidung zwischen MSG/SA und DB betrifft z. B. auch „die Unrechtmäßigkeit ihrer Bestrafung“ (S. 26). Während bei den DB deliktunabhängig schon die Art und Form der Bestrafung mit dem Aufenthalt in Schwedt als unrechtmäßig anzusehen war, wäre bei den MSG eine Einzelfallprüfung mit Abgleich von zugrunde liegender Tat und strafrechtlicher Ahndung vorzunehmen. In der hier relevanten Passage betrifft der verknüpfte Verweis auf das Dok. 70 zudem nur die MSG; nicht die auch suggerierten DB.
• Eine die Varianten von Wehrersatzdienst aufzählende Formulierung von Wenzke verweist auf Geltung ab 1962 (S. 16). Die ebenfalls erwähnten Bausoldaten kamen jedoch erst ab 1964 hinzu.
• Die Einschränkung auf „Militärangehörige im Mannschafts- oder Unteroffizierdienstgrad“ mit Strafen bis zu 2 Jahren (S. 17) lässt die [zugegeben wenigen] Fälle außer Acht, in denen in den Anfangsjahren von SCHWEDT auch Offiziere dort Strafen verbüßten.
• Die Formulierung „nach der Festnahme in ihrer Einheit“ bezüglich des Beginns der Strafverfolgung von Armeeangehörigen (S. 17) ignoriert sämtliche Fälle von unerlaubter Entfernung / Fahnenflucht, bei denen die Entwichenen außerhalb ihrer Truppenstandorte („Einheit“) festgenommen wurden.
• Bei Dok. 74 kommentiert Wenzke in Fußnote (Fn.) 104, die zugehörige Befehlsnummer sei in der bisherigen Literatur (z. B. bei Dressler) falsch mit 08/90 angegeben (S. 222). Korrekt wäre 80/90. Eine Begründung liefert Wenzke nicht. Das Digitalisat aus dem Bundesarchiv (bezogen auf die Urschrift des Befehls) lässt jedoch eindeutig die o8 erkennen - in eben jener Schreibweise mit der kleinen o-Null. Da dem Rezensenten auch die Befehle 3/90, 09/90 und 12/90 vom 4. Mai, 12. Juni bzw. 14. Juni 1990 bekannt sind (ebenfalls Digitalisate der Urschrift), erscheint die o8-Variante plausibler. Zudem ist bei Dok. 74 eine unsinnige Blattnummernangabe enthalten (11-13105; korrekt wäre 11-13), die vmtl. aus der fälschlichen Zusammenfügung der Blattnummer mit der Fn. 105 resultiert.
• Das Personenverzeichnis (S. 243) beginnt mit einem Hinweis: „Nach Möglichkeit wurde der in den Dokumenten genannte zuletzt erreichte Dienstgrad ergänzt.“ Im Widerspruch dazu ist bei den Strafvollzugs-Bediensteten Bailleu und Pfotenhauer abweichend verfahren worden.
Letztlich finden sich auch div. Schreibfehler:
• Die Abkürzung OibE ist im Abk.verz. falsch OiBe geschrieben worden (S. 234).
• Im Ortsregister (S. 245) irritiert die Sortierung der Fundstellen zu Berndshof.
• Der Verweis auf „Anm. 15 und 16 in diesem Beitrag“ (S. 16) geht ins Leere, da nach Fn. 12 im nächsten Kapitel eine neue Zählung beginnt und die dortigen Nr. 15 / 16 andere Themen betreffen. U. U. sind real die Fn. 5 + 6 gemeint. Gleiches gilt für den Verweis in Fn. 5 auf Anm. 13 und 16, mit dem vmtl. Fn. 3 und 6 gemeint sind.
• Sowohl in der Dokumentenübersicht als auch im Dokumententeil fehlt im Titel zu Dok. 33 die Silbe „en“ (S. 40, 115).
• Zum Ende des Dok. 67 ist ein Wortfehler enthalten, der vmtl. auf die hier unsinnige Autokorrektur des Textprogramms zurückzuführen ist: statt StPO steht dort stopp (S. 210).

Gerade die letzten Anmerkungen lassen vermuten, dass an einer Lektoratsbetreuung für diesen Band gespart wurde. Dennoch liegen für die tiefer in die Materie Einsteigenden hier durchaus interessante Dokumente vor.
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